POLNISCHE NATIONALHELDINNEN UND - HELDEN DES 20. JAHRHUNDERTS – WAS SAGEN SIE ÜBER UNS SELBST?

Przemysław Waingertner
Universität Łódź

Welche historischen Persönlichkeiten ihrer Landsleute (deren Lebenslauf bereits abgeschlossen ist und daher gründlich und gerecht bewertet werden kann) halten die Polinnen und Polen für die wichtigsten in der jüngsten Geschichte des Landes und der Nation? Wer von ihnen wird von den zeitgenössischen polnischen Bürgerinnen und Bürger in die Galerie der Nationalhelden des vergangenen Jahrhunderts – gekennzeichnet durch die zweimalige Wiedergewinnung der Unabhängigkeit (1918 und 1989) und den zweimaligen Aufbau eines souveränen Staates, aber auch durch zwei blutige Weltkriege, die heldenhafte Verteidigung gegen die russische Invasion im Jahr 1920 und die jahrzehntelange kommunistische und sowjetische Unterdrückung – aufgenommen? Was sagt eine solche Zusammenstellung über uns selbst aus – welche Charaktereigenschaften, geistigen Qualitäten, Talente und Fähigkeiten schätzen wir bei unseren Vorfahrinnen und Vorfahren? Schon eine flüchtige Lektüre der Antworten auf Fragen zu polnischen Heldinnen und Helden des 20. Jahrhunderts – und die stellen von Zeit zu Zeit populärwissenschaftliche Geschichtsmagazine, seriöse Zeitschriften unter dem Namen Klio und Institutionen der Wissenschaft und Kultur – ermöglicht es, die Gewinnerinnen und Gewinner eines solchen Rankings festzustellen. Zu ihnen gehören: Józef Piłsudski, Ignacy Jan Paderewski, Hl. Johannes Paul II. sowie auch Maria Skłodowska-Curie. Dank der Bildungsaktivitäten verschiedener Gemeinschaften und Institutionen werden in den letzten Jahren auch Jan Karski und Witold Pilecki zu den oben genannten Persönlichkeiten dazugezählt.

JÓZEF PIŁSUDSKI

Zunächst der Listenführer – Józef Piłsudski (1867-1935). Unabhängigkeitsverschwörer während der Teilungszeit. Nach Sibirien verbannt. Vorsitzender der Polnischen Sozialistischen Partei PPS, die zum Kampf für eine freie und sozial gerechte Republik Polen aufrief. Redakteur und Publizist des Parteiorgans der sozialistischen Irredenta „Robotnik” (dt. Der Arbeiter). Glühender Verfechter der Umwandlung der revolutionären Ereignisse von 1905 in einen weiteren polnischen nationalen Befreiungsaufstand. Einer der Initiatoren und Befehlshaber der paramilitärischen polnischen Schützeneinheiten im österreichischen Teilungsgebiet. 

Im Ersten Weltkrieg war er Kommandeur der Ersten Brigade der Polnischen Legionen, die an der Seite der österreichisch-ungarischen Armee gegen Russland kämpfte, und Oberhaupt der Polnischen Militärorganisation POW, die vor allen Teilungsmächten konspirativ tätig war.

Nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit und der Neugestaltung des politischen Systems und der Grenzen diente er als Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber und später als Erster Marschall Polens. Er war ein Befürworter der Wiederherstellung des Landes als große Föderation zusammen mit Litauen, der Ukraine und Belarus – eine ehrgeizige, historische Anknüpfung an die multinationale und mächtige Republik der Zwei Nationen Polen-Litauen. Dies war gleichzeitig ein Verweis auf das 

Selbstbestimmungsrecht der Nationen (angesichts der Schwäche der gerade entstehenden litauischen, ukrainischen und belarussischen Völker schien die Alternative zu einer Föderation, die ihnen die Chance auf eine eigene Staatlichkeit bot, in der Praxis eine Aufteilung ihrer Gebiete zwischen Polen und dem neuen sowjetischen, aber immer noch imperialen Russland zu sein). 

Marschall Piłsudski erwies sich auch als Bezwinger der Roten Armee in den großen, blutigen Schlachten von 1919-1920. Er war der Architekt des demokratischen Systems Polens in der Zwischenkriegszeit – Mitverfasser eines Systems bürgerlicher und sozialer Rechte und Initiator der raschen Einberufung der Verfassunggebenden Nationalversammlung. Gleichzeitig war er ein verbissener Kritiker der Märzverfassung (die seiner Meinung nach die Position des Präsidenten und der Regierung zugunsten des Sejms in katastrophaler Weise schwächte) und der instabilen Parlaments- und Kabinettsregierungen in der Zweiten Republik Polen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Letztendlich war er auch der Autor des bewaffneten Maiputsches von 1926 und der eigentliche Schöpfer des Phänomens des polnischen Autoritarismus und Diktator in den Jahren 1926-1937 dictator 1

Piłsudski war – ein scheinbares Oxymoron! – ein romantischer Realist. Die Romantik manifestierte sich in der Festlegung des höchsten strategischen Ziels: eines souveränen und sicheren Polens. Der Realismus wiederum in der pragmatischen, gar opportunistischen Taktik, dieses Ziel zu erreichen. Es war diese paradoxe Mischung, die dazu führte, dass der ehemalige sozialistische Anführer, abhängig von den wechselnden Umständen, im Krieg auf Schützenverbände und die Idee der Legionen zurückgriff, während der geborene Diktator zunächst Wahlen zu der Verfassunggebenden Nationalversammlung anordnete (um die Bürgerinnen und Bürger an den Staat zu binden und gleichzeitig den polnischen Behörden in der Zeit der Pariser Friedenskonferenz von 1919 demokratische Legitimität und internationale Anerkennung zu verleihen) und später die „Sejmokratie” mit einer Waffe in der Hand stürzte und eine autoritäre Herrschaft einführte. War der Maiputsch als Auftakt für eine radikale Verbesserung des Staates gedacht? Warum hat dann Piłsudski die Pläne für eine neue Verfassung, die Frage der nationalen Minderheiten und die sozioökonomische Schlüsselfrage der Bodenreform ignoriert?! Wieso hat er sich nur auf die Probleme der Armee und der Diplomatie konzentriert? Ich stelle die These auf, dass er einer der wenigen Polen war – dies erklärt die tragische Einsamkeit des „Vaters” der Unabhängigkeit unter den eigenen Landsleuten, die ihn für den Wiederaufbau der Republik Polen verehrten – der erkannte, dass angesichts des kurzen Intervalls zwischen den Kriegskatastrophen, als welches er die Zwischenkriegszeit betrachtete, in Erwartung eines weiteren großen bewaffneten Konflikts, einfach keine Zeit für die Wiederherstellung des Staates blieb; dass es vorrangig war, eine starke Armee aufzustellen und strategische Allianzen einzugehen und dass sich die von den Polen gefeierte Unabhängigkeit als Kurzgeschichte ohne Happy End entpuppen könnte….

IGNACY JAN PADEREWSKI

Ein weiterer Held in dieser Geschichte ist der 1860 geborene Ignacy Jan Paderewski, ein Nachkomme und ehemaliger Schüler der polnischen Aufständischen von 1830 und 1863. Er war ein außergewöhnlich talentierter und fleißiger Pianist (er übte oft ununterbrochen 12 Stunden am Stück) und wurde als „Zauberer der Klaviatur” bezeichnet. Er studierte bei den Meistern – Berlioz und Leschetizky selbst – und trat bei zahllosen Konzerten in Europa und den Vereinigten Staaten vor Tausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern auf, darunter die englische Königin Victoria und US-Präsident Woodrow Wilson. Er war der einzige Pole, dessen Oper auf der Bühne der legendären Metropolitan Opera in New York aufgeführt wurde. Er war mit der großen polnischen Schauspielerin Helena Modrzejewska befreundet. Er wurde zu Recht als der berühmteste Pole der Jahrhundertwende des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnet. Piłsudski war (einigen wenigen!) Politikern bekannt. Paderewski politischen, sozialen und kulturellen Eliten auf der ganzen Welt.

Der Klaviervirtuose und große Komponist gab seine lebenslange Leidenschaft für die Musik auf, um sich voll und ganz der Arbeit für die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Polens zu widmen. Im Jahr 1910 stiftete er das Krakauer Denkmal zum Gedenken an die polnisch-litauischen Siege bei Grunwald. Die Zeremonie, bei der er eine patriotische Rede hielt, begeisterte mehr als 150.000 

Polinnen und Polen, die aus allen Teilungsgebieten gekommen waren. Während des Ersten Weltkriegs gründete er in Paris, London und im schweizerischen Vevey Komitees zur Unterstützung Polens.

In den USA traf er sich mit Präsident Wilson und seinem Berater Edward House und setzte sich unermüdlich dafür ein, dass Washington das Verlangen nach der Wiederherstellung eines unabhängigen Polens unterstützt. Das Ergebnis dieser Aktion war die Aufnahme dieser Forderung in Wilsons berühmte 14 Punkte, die als Bedingungen für die Beendigung des Krieges gelten sollten. Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 leitete er als Premierminister der Republik Polen und polnischer Außenminister offiziell die polnische Delegation. Während des polnisch-sowjetischen Krieges setzte er sich für die Gründung der Amerikanischen Legion und der polnisch-amerikanischen Kościuszko-Fliegerstaffel zur Unterstützung des polnischen Militärs ein. Er vertrat sein Heimatland beim Völkerbund. Bis an sein Lebensende engagierte er sich für die polnische Sache. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und Polen besetzt wurde, leitete er das „Exilparlament”, den Nationalrat der Republik Polen. Er starb im Jahr 1941 – war bis zum Ende im Dienst der Republik Polen, von seinen Landsleuten und der ganzen Freien Welt als großer Patriot und Musiker geschätzt2

JAN PAWEŁ II

In allen gesellschaftlichen Umfragen, die in Polen und weltweit durchgeführt werden und in denen unsere Landsleute und ausländische Bürgerinnen und Bürger nach den berühmtesten Polinnen und Polen gefragt werden, steht Johannes Paul II. (1920-2005) immer an der Spitze der genannten Persönlichkeiten.

Unabhängig davon, ob er als Heiliger, Seine Heiligkeit oder „nur” als Papst bezeichnet wird. 

Abgesehen davon, ob man ihn als Initiator und Hauptakteur der großen Welle der Weltevangelisierung und der Ökumene eindeutig positiv beurteilt oder ihn des Konservatismus und der Abneigung gegen das neue katholische „aggiornamento” beschuldigt; ob man ihn als vergeistigten katholischen Mystiker oder als subtilen Philosophen und Intellektuellen der Kirche ansieht; ob er als geistlicher Hirte der Verfolgten und Armen oder als berechnender Akteur auf der großen Bühne der Weltpolitik gesehen wird oder ob man ihn schließlich als Oberhaupt der Kirche, als geistigen Anführer und Lehrer behandelt oder als einen der einflussreichsten Staatsmänner des vergangenen Jahrhunderts, der in Polen zur Entstehung der Massenbewegung „Solidarność” (dt. Solidarität) beitrug und zum Bankrott des Kommunismus in Europa und der Sowjetunion, zum Zusammenbruch des Ostblocks und zum Ende der „Heimat des Weltproletariats” führte.

Bevor Karol Wojtyła 1978 nach dem Konklave zum Papst und Bischof von Rom gewählt wurde, war sein Lebenslauf voller dramatischer Ereignisse. Der in Wadowice bei Krakau geborene Wojtyła, der sich für die Poesie, das Schreiben von Theaterstücken und die Schauspielerei begeisterte, verdiente seinen Lebensunterhalt während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung als einfacher Arbeiter. Nach dem Kriegsende wählte er den Weg der priesterlichen Berufung – vom Absolventen des Priesterseminars über den Kardinal bis zum Empfang der päpstlichen Tiara. An der Spitze der Institutionen der katholischen Kirche und einer großen Anzahl von Gläubigen, machte er sich einen Namen als Papst der Pilger, der das Evangelium auf allen Kontinenten predigte, Gemeinsamkeiten mit den Intellektuellen fand, die Jugend für sich und den Glauben gewann und sich für die Armen und Unterdrückten einsetzte; als Autor und Mitverfasser zahlreicher Enzykliken und apostolischer Schreiben sowie eines Katechismus der katholischen Kirche; als Verbündeter der westlichen Anführer, die in den 1980er Jahren dem Kommunismus und der Sowjetunion feindlich gegenüberstanden – Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Für viele – unabhängig von ihrer Weltanschauung und Religion – war und ist er einfach ein moralisches Vorbild, das in der heutigen Welt so sehr gesucht und gebraucht wird3.

MARIA SKŁODOWSKA-CURIE

Eine weitere Figur (und die einzige Frau auf dieser „männlichen” Liste) ist Maria Skłodowska-Curie – eine echte Rekordhalterin, die nicht nur mehrmals den Titel „die erste” errungen, sondern auch andere spektakuläre Leistungen erbracht hat. Sie war die erste polnische Nobelpreisträgerin (verliehen 1903 und 1911 als die Polnische Republik, die unter den Teilungen verblieb, nicht auf der Landkarte Europas zu finden war). Sie war auch die erste Frau in der Geschichte, die den Nobelpreis erhielt. Sie war die erste Person und bisher die einzige Frau, die zweimal mit dem Nobelpreis gekürt wurde. Entdeckerin von zwei neuen Elementen. Die erste Frau, die ihr Physik- und Chemieexamen bestand und sich um einen Studienplatz an der renommierten Sorbonne in Paris bewarb. Die erste Professorin und Leiterin des Lehrstuhls für Physik an dieser angesehenen Universität. Schließlich war sie die erste und bisher einzige Frau, die im französischen Pantheon beigesetzt wurde – und die erste Person, die außerhalb Frankreichs geboren und auf diese Weise geehrt wurde. Freundin des bereits erwähnten großen polnischen Komponisten und Pianisten Ignacy Paderewski. Schließlich – Ehefrau, Mutter, Großmutter und Schwiegermutter von Nobelpreisträger/-innen. Eine Frau, um die sich, wie einst die Griechen und Trojaner um die schöne Helena, seit einem Jahrhundert Polen und Frankreich streiten, ob sie einfach nur eine Polin (denn das war sie!) oder ob sie im Laufe der Zeit mehr zu einer Französin geworden sei.

Sie wurde 1867 in Warschau geboren, von wo aus sie nach Frankreich ging, um an der legendären Sorbonne Physik und Chemie zu studieren. Sie war Pionierin eines neuen Zweigs der Chemie – der Radiochemie. Zu ihren wichtigsten Errungenschaften gehören die Entwicklung der Radioaktivitätstheorie, die Ausarbeitung und Verfeinerung von Techniken zur Trennung radioaktiver Isotope und, wie bereits erwähnt, die Entdeckung zweier neuer Elemente, Radium und Polonium. Auf ihre Initiative hin wurden auch Forschungen zur Behandlung von Krebs mit Radioaktivität durchgeführt. Auf ihre Anregung hin stellte die französische Regierung Mittel für die Gründung des Radium-Instituts zur Verfügung, in dem Forschung in Bereichen Chemie, Physik und Medizin betrieben wurde. Während des Ersten Weltkriegs leistete sie Pionierarbeit beim Einsatz der Radiologie an der Front, wodurch das Leben vieler Soldaten gerettet werden konnte. Die Welt erkannte ihre großen Leistungen an. Neben dem bereits erwähnten „doppelten” Nobelpreis wurde ihr dreimal der Titel der Preisträgerin der „Akademie der Wissenschaften in Paris” verliehen. Zu ihren akademischen Auszeichnungen gehören Ehrendoktorwürden mehrerer renommierter Universitäten – darunter Genf, Manchester und Edinburgh – sowie Mitgliedschaften in den Akademien der Wissenschaften in St. Petersburg, Bologna und Prag und nicht zuletzt der Polnischen Akademie der Fertigkeiten in Krakau. Als sie 1934 an Anämie und vor allem an der Strahlenkrankheit, die sie sich bei ihren Forschungen zugezogen hatte, starb, trauerte Polen, Frankreich und die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft um sie4.

JAN KARSKI

Schließlich ist es Zeit für zwei polnische Helden des Zweiten Weltkriegs – Jan Karski und Witold Pilecki. Der erste wurde im Jahr 1914 geboren. Er stammte aus Łódź, hatte Jura und Diplomatie an der Universität Lviv studiert, war Klassenbester der Offizierskadettenschule in Włodzimierz Wołyński und schließlich frisch gebackener Mitarbeiter des Außenministeriums. Eine glänzende Zukunft lag vor ihm – eine Karriere, Auslandseinsätze, prestigeträchtige Positionen, wahrscheinlich eine erfolgreiche Ehe…. Alle Pläne und Träume wurden 1939 durch den Krieg zunichte gemacht. Er schmiedete aus dem Material für ein „Wunderkind” und den Star der polnischen Diplomatie einen Mann aus Bronze, einen zähen Soldaten und zugleich einen tragischen Helden einer verlorenen Sache. Zuerst der Verteidigungskrieg von 1939 und die sowjetische Gefangenschaft, dann die Flucht und Verschwörung unter deutscher Besatzung, die Nazi-Folter nach einer Verhaftung, ein Selbstmordversuch aus Angst, seine Mitstreiter zu verraten. Und schließlich die Befreiung aus dem Gefängnis. Und dann kam die unmenschliche Welt des Holocaust: heimliche Aufenthalte im Vorhof zur Hölle – dem Warschauer Ghetto – und in der Hölle selbst, dem Konzentrationslager Izbica. Er bereitete einen Sonderbericht über das Massaker an der jüdischen Bevölkerung für die polnische Exilregierung vor und übernahm den Kurierauftrag, die polnischen Exilbehörden und 

die Alliierten über den Holocaust zu informieren und sie zum Eingreifen zu bewegen.

Karski begab sich Ende 1942 auf diese Reise und riskierte dabei mehrmals sein Leben. Er übermittelte einen Bericht und umfangreiche Informationen an die polnische Regierung in London. Diese intervenierte weiter – bei den Verbündeten. Karski selbst traf sich mit dem britischen und amerikanischen Militär, Politikern, einflussreichen sozialen und wirtschaftlichen Akteuren, Vertretern der Medien und der Filmindustrie sowie kirchlichen Würdenträgern. Er beriet sich sogar beim Präsident Franklin Delano Roosevelt. Er beschrieb immer wieder die Schrecken des Holocausts. Er plädierte inbrünstig bei allen dafür, dass sofortige Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Deutschen aufzuhalten oder zumindest die Vernichtungsmaschinerie des „auserwählten Volkes” zu bremsen. Leider stieß er bei ihnen auf Unverständnis. Die Reaktion auf seine erschütternden Berichte war Gleichgültigkeit, Misstrauen oder zynische Aussage, dass die Bedürfnisse der Front wichtiger seien als die Rettung der Zivilbevölkerung im tiefsten besetzten Europa. Nach dem Krieg wurde er von Israel mit der Ehrenbürgerschaft und dem Titel „Gerechter unter den Völkern” ausgezeichnet und galt als politische und wissenschaftliche Autorität. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 lebte er im Schatten der Holocaust-Tragödie mit dem Gefühl, die wichtigste – und, wie sich herausstellte, unmögliche – Aufgabe seines Lebens nicht erfüllt zu haben…5

WITOLD PILECKI

Die weltweite und polnische Literatur ist reich an Bildern von historischen, aber idealisierten großen Helden, Patrioten, Vorbildern der Tapferkeit, ritterlichen und soldatischen Tugenden – von Leonidas, Roland, Lancelot bis zu Zawisza Czarny. Währenddessen hat die dramatische Geschichte Polens im vergangenen Jahrhundert einen Helden aus Fleisch und Blut hervorgebracht, der durch seinen beispiellosen Mut, seine hohe Moral, seine Liebe zum Heimatland, aber auch durch seine Treue zu universellen Werten zu einem Vorbild eines Soldaten, Patrioten und der Menschheit wurde. Der 1901 geborene Rittmeister Witold Pilecki – um den es hier geht – war also vor und während des Ersten Weltkriegs der Organisator und einer der Anführer der geheimen polnischen Pfadfinderbewegung im Russischen Imperium und Kämpfer gegen die deutsche Armee, die polnisches Gebiet besetzt hält. Als Kavallerist kämpfte er im polnisch-sowjetischen Krieg. In der Zweiten Republik Polen war er nicht nur Soldat, sondern auch sozialer Aktivist. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nahm er am Verteidigungskrieg im September 1939 teil und wurde später Leiter einer Partisaneneinheit. Unter der Nazi-Besatzung organisierte er die Polnische Geheimarmee, wurde einer ihrer Anführer und vollstreckte ihre Eingliederung in den Bund des Bewaffneten Kampfes, einer bewaffneten Organisation des Polnischen Untergrundstaates. Er war der Initiator des Plans, einen Vertreter des militärischen Untergrunds im Konzentrationslager Auschwitz zu platzieren, um dort eine Widerstandsbewegung zu organisieren; ein nachrichtendienstliches Netzwerk, das Informationen über das Funktionieren der „Todesfabriken” 

und die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung hinter Stacheldraht sammelt und weitergibt; und schließlich eine Massenflucht oder einen Angriff von Einheiten des polnischen Untergrunds auf das Lager, um die Häftlinge zu befreien. Er meldete sich freiwillig für diese Mission, wurde verhaftet und war von 1940 bis 1943 in Auschwitz tätig. Nach seiner Flucht aus dem KZ nahm er am Warschauer Aufstand teil und wurde nach der Kapitulation von den Deutschen gefangen genommen. Nach der Befreiung des Offizierlagers und seinem Beitritt zu den polnischen Streitkräften im Westen wurde er nach Polen geschickt, wo er eine antisowjetische Konspiration organisierte. Von den Kommunisten verhaftet, bestialisch gefoltert und zum Tode verurteilt, wurde er 1948 von ihnen im Gefängnis ermordet. 

Rittmeister Pilecki war ein Held dreier Kriege, ein Frontsoldat, ein Aufständischer und Verschwörer. Ein Häftling in Konzentrationslagern, deutschen Offizierlagern und kommunistischen Kasematten. Ein Held im Kampf gegen zwei Totalitarismen – im Namen der Unabhängigkeit Polens, aber auch zur Verteidigung der universalen Werte – der Würde des Individuums und der einfachen Menschheit

In den Figuren der Nationalheldinnen und -helden sehen sich die Polen wie in einem Spiegel. Sie suchen bei ihnen nach Werten, nach einem nationalen Kanon von Geboten, die sie teilen, oder – sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewusst – die sie zumindest gerne befolgen würden. Sie nehmen die genannten Figuren als Vorbilder und Kompass wahr – auch wenn ihre eigenen Wege manchmal verschlungen sind (oder vielleicht genau deshalb). Patriotismus, Aufopferung der persönlichen Interessen pro publico bono, Toleranz, Einfühlungsvermögen, Mut in den Plänen und Taten, Respekt vor dem Wissen und Fleiß – das ist das Zeugnis, das sie aus den Biographien großer Landsleute lesen. So wollen sie den polnischen Nationalcharakter sehen. Manche sind wie sie – manche wollen wie sie sein. Wesentlich ist aber, jede(r) kann versuchen wie ihresgleichen zu werden.

Über den Autor
fot. Bartosz Kałużny / UŁ

Dr. Przemysław Waingertner: geb. 1969, Historiker (Universität Łódź), Forscher für die Geschichte der Zweiten Republik Polen, das polnische politische Denken und die Geschichte der polnischen Armee im 20. Jh., Autor vieler Bücher und über hundert wissenschaftlicher Artikel in „Dzieje Najnowsze” (Die Jüngste Geschichte), „Przegląd Nauk Historycznych” (Presseschau zur historischen Wissenschaft) und „Rocznik Łódzki” (Jahrbuch Łódź), Popularisator der Geschichte, Mitarbeiter von TVP Historia (TVP Geschichte) und „W Sieci Historii” (Im Netz der Geschichte), stellvertretender Vorsitzender der Polnischen Geschichtsgesellschaft Abteilung Łódź, Vorsitzender des Beirates im Museum Polnischer Kinder – Opfer des Totalitarismus, Mitglied im Programmrat der Janusz-Kurtyka-Stiftung

Fußnoten

1 B. Urbankowski, Józef Piłsudski. Marzyciel i strateg, Poznań 2014; A. Garlicki, Józef Piłsudski, 1867–1935, Warszawa 1990; K. Kawalec, op. cit.; R. Wapiński, Roman Dmowski, Lublin 1988. 

2 M. M. Drozdowski, Ignacy Jan Paderewski, Warszawa 1981; H. Przybylski, Paderewski. Między muzyką a polityką, Katowice 1992; I. J. Paderewski, Pamiętniki, Kraków 1961. 

3 A. Bujak, M. Rożek, Wojtyła. Wrocław 1997; ks. M. Maliński, Droga do Watykanu. Wydawnictwo Literackie 2005; G. Weigel, Świadek nadziei, Kraków 2000; P. Zuchniewicz, Narodziny pokolenia JP2. Warszawa 2007.

4 R. W. Reid, Marie Curie. London 1974; F. GiroudMaria Skłodowska-Curie, Warszawa 1987; S. Quinn, Życie Marii Curie. Warszawa 1997; M. Skłodowska-Curie, Autobiografia i wspomnienia o Piotrze Curie. Warszawa 2004. 

5 S. M. Jankowski, Karski. Raporty tajnego emisariusza, Poznań 2009; W. Piasecki, Jan Karski. Jedno życie, t. 1-2, Kraków 2015-2017; E. T. Wood, Karski. Opowieść o emisariuszu, Kraków 1996; A. Żbikowski, Karski, Warszawa 2011.

A. Cyra, Rotmistrz Pilecki. Ochotnik do Auschwitz, Warszawa 2014; Auschwitz. Nazistowski obóz śmierci, red. F. Piper i T. Świebocka, Oświęcim-Brzezinka 1993.

Das Projekt wurde aus den Mitteln der Kanzlei des Polnischen Ministerpräsidenten im Rahmen des Wettbewerbs „Polonia und Polen im Ausland 2022“ gefördert

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